Indigenes Wissen nutzen

Wie Religionen für eine bessere Welt sorgen können
Vorstellung des Berichtes zur Religionsfreiheit in der Bundespressekonferenz
Foto: epd
Vorstellung des Berichtes zur Religionsfreiheit in der Bundespressekonferenz

Um die Religionsfreiheit weltweit ist es weiter nicht gut bestellt. Das zeigt der aktuelle Bericht des Beauftragten für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, den Frank Schwabe gestern präsentierte. Dabei können gerade Religionsvertreter zum wichtigen Faktor für eine nachhaltige Entwicklung werden.

Fördert Religion Entwicklung oder hält sie Menschen an traditionellen Verhaltensweisen gebunden? Und wäre letzteres wirklich ein Problem, wenn die über Generationen überlieferten Regeln über den Umgang miteinander und mit der Natur weitaus nachhaltiger sind, als die des industriell geprägten westlichen Lebensstils? Was ist der Maßstab für gute Entwicklung und welche fördernde Rolle können darin Religionen unter welchen Voraussetzungen spielen? Keine leichten Fragen, denen sich der Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit widmet. Der von der Bundesregierung Beauftragte zu diesem Thema, der Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe (SPD), hat ihn gestern im Kabinett und vor der Hauptstadtpresse vorgestellt.

Selbstverständlich geht es auch in dem bereits zum dritten Mal erstellten Bericht um die Frage, wie es weltweit um die Freiheit bestellt ist, selbstbestimmt einer Religion oder eben auch keiner anzugehören und entsprechend zu leben. Weiterhin kommt es nämlich in vielen Ländern zu Verletzungen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. „Systematische Verfolgung, Angriffe, Vertreibungen, massenhafte Vergewaltigungen, Versklavungen, Internierungen und Mord an ganzen ethno-religiösen bzw. religiösen Gemeinschaften beschäftigten Deutschland und die Weltgemeinschaft“, heißt es in dem Bericht. Beispielhaft genannt werden die Verbrechen an den Êzîdinnen und Êzîden in Irak, an den Uigurinnen und Uiguren in China und den Rohingya in Myanmar. 

41 Länder unter der Lupe

Doch auch woanders werden Mitglieder von religiösen Minderheiten „vielfältiger Diskriminierung im Alltagsleben bis hin zu systematischer Verfolgung ausgesetzt". Dabei litten den sie teilweise unter willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen und sind in Extremfällen Gewalterfahrungen ausgesetzt, die in Einzelfällen bis zum Tod der Personen führen könnten – „zum Beispiel Schiitinnen und Schiiten in Afghanistan, Christinnen und Christen in Pakistan, Baháʼí in Staaten wie Iran und einem Teil von Jemen sowie Konvertitinnen und Konvertiten und Atheistinnen und Atheisten in vielen mehrheitlich muslimischen Ländern".  In einem deutlich erweiterten Länderkapitel wird die Situation in 41 Staaten genauer beschrieben, neu darunter etwa Armenien, Belarus, Guatemala, Libanon, Malediven und Syrien.

Der Bericht setzt noch zwei inhaltliche Schwerpunkte, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit indigener Völker und die Rolle der Religionen bei Umsetzung der Agenda 2030, den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen, die bis Ende dieses Jahrzehnts erreicht werden sollen. Die Halbzeitbilanz in diesem Sommer fiel schlecht aus, nur bei 15 Prozent der angestrebten Ziele ist die Welt auf Kurs, bei jedem dritten Ziel hat sich die Lage nicht verbessert und zum Teil sogar verschlechtert. Können Religionen und ihre Vertreter hier zum Game Changer werden?

Großes Potenzial

Der Bericht stellt zunächst einmal klar: „Statt Ziele der Agenda 2030 voranzutreiben, können religiöse Organisationen und Akteurinnen und Akteure ein Hemmnis für eine nachhaltige Entwicklung darstellen.“ Denn das Recht auf Religionsfreiheit werde mitunter missbräuchlich genutzt, um Diskriminierung von Frauen und LGBTIQ+ Personen, aber auch ethnischen und religiösen Minderheiten zu begründen.

Aber: Wissenschaftlich gesehen „gibt es starke Hinweise darauf, dass Glaubensgemeinschaften, die ihren Überzeugungen treu bleiben, einen wichtigen Beitrag zur Verhinderung von Gewalt, zu ihrer Beilegung und zur Friedenskonsolidierung in Nach-Bürgerkriegsgesellschaften leisten können“, heißt es unter Berufung auf den Tübinger Friedensforscher Andreas Hasenclever.

Religiöse Gemeinschaften hätten in vielfältiger Weise Einfluss auf das Handeln ihrer Gläubigen. Darin läge ein großes Potenzial für die Umsetzung der Agenda 2030. So sei etwa der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist ein zentrales Anliegen vieler Religionen und Weltanschauungen. Auch in der Stärkung der gesellschaftlichen Positionen von Frauen können Religionen „empowernd“ wirken und so das UN-Entwicklungsziel Nummer 5, Geschlechtergerechtigkeit, umzusetzen.

Gegen Genitalverstümmelung

Dabei wurde und wird Religion ohne Frage oft dazu missbraucht, Frauen zu unterdrücken und zu misshandeln. Der Bericht verweist etwa auf die Genitalverstümmelung bei jungen Mädchen in Mali, die auch religiös begründet wird. Dagegen arbeitete 2020 ein multireligiöses Kooperationsprojekt mit Islamic Relief und World Vision Deutschland in der Region Koulikoro. Religiöse Akteurinnen und Akteure seien als Schlüsselpersonen für gesellschaftlichen Wandel gewonnen worden, 400 religiöse und traditionelle Würdenträgerinnen und Würdenträger (darunter 26 Frauen) hätten mitgewirkt, um ihre Gemeinden zu Verhaltensänderungen mit Bezug zur Genitalverstümmelung und geschlechtsspezifischer Gewalt zu bewegen. Mindestens 370 Mädchen seien so vor der Verstümmelung durch Beschneidung bewahrt worden, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Regionen hätten eine Konvention zur Beendigung der Genitalverstümmelung vereinbart, 56 praktizierende Beschneiderinnen und Beschneider ihre Tätigkeit eingestellt.

Nicht zu unterschätzen bei der Umsetzung der Agenda 2030 ist die Rolle der etwa 470 Millionen Menschen in rund 5000 indigenen Völkern – und deren Religion und Spiritualität. Mehr als 25 Prozent der Landfläche weltweit wird von Indigenen genutzt, das entspricht 40 Prozent der Schutzgebiete und ökologisch intakten Landschaften, die gleichzeitig voll von begehrten Rohstoffen und deshalb besonders in ihrem Erhalt gefährdet sind. Der Umgang der indigenen Völker mit der Natur sei oft bestimmt von dem Streben nach Balance zwischen menschlicher Gemeinschaft, Natur und übernatürlicher Transzendenz, was Wissenschaftler mit dem Begriff „Kosmovision“ beschreiben. Genauer erläutern dies der Menschenrechtsexperte und Theologe Heiner Bielefeldt und der Anthropologe Volker von Bremen in einem gesonderten wissenschaftlichen Teil des Berichts.

Um auch dieses Wissen zu nutzen für die Umsetzung der Agenda 2030, brauche es auch in der Bundesregierung und der Entwicklungszusammenarbeit einen Kompetenzausbau, einen Zuwachs an „Religious Literacy“. Seine eigene Lernkurve beschreibt Frank Schwabe in der Einleitung des Berichtes. Er habe bei einem seiner Besuche in Guatemala vor vielen Jahren nicht verstanden, warum es heftige und mit Gewalt verbundene Proteste rund um eigentlich naturverträgliche Miniwasserkraftwerke gab. „Heute weiß ich, dass es darum ging, dass die Gebiete rund um einen kleinen Strom eine spirituelle Bedeutung hatten, der Wald in den Augen indigener Gemeinschaften beseelt war und deshalb dort nicht einfach so Eingriffe stattfinden durften.“

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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