Weltliteratur aus dem Emmental

Der christliche Erzähler Jeremias Gotthelf ist in einer neuen Edition wiederzuentdecken
Bei ihm ist Dialektales zu spüren, die ganze Eigenart einer Landschaft: Jeremias Gotthelf.
Foto: akg-images/Keystone
Bei ihm ist Dialektales zu spüren, die ganze Eigenart einer Landschaft: Jeremias Gotthelf.

Der Schweizer Autor und Pfarrer Jeremias Gotthelf (1797–1854) hatte einen rebellischen Charakter. Liberal war er gesinnt und ein Kritiker des dominierenden Patriziats. Seine Bücher verstand er auch als eine Form von Seelsorge. Aber sie waren viel mehr. Eine Würdigung des lange außerhalb der Schweiz unterschätzten Literaten durch den Kulturjournalisten Thomas Groß.

Muss man Schweizer sein, um diesen Autor recht zu schätzen? Nein, man muss es im Falle von Jeremias Gotthelf so wenig sein wie im Falle von Gottfried Keller oder Max Frisch. Bei Gotthelf liegt die Frage aber immerhin näher, denn besonders bei ihm ist Dialektales zu spüren, die ganze Eigenart einer Landschaft, des Emmentals im Kanton Bern, und ihrer Bewohner. Doch Gotthelf, geboren 1797 und gestorben im Jahr 1854, ist es auch, der mit der Erzählung „Die schwarze Spinne“ eine Geschichte schrieb, die – neben Kellers etwas später entstandenen Novellen „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ und „Kleider machen Leute“ – ganz besonders bekannt wurde im gesamten deutschsprachigen Raum und weit darüber hinaus.

Gotthelf steht trotz seiner Eigenart, wie ebenfalls Keller mit seiner Shakespeare-Adaption, deutlich im Zusammenhang einer gesamteuropäischen Literaturtradition. „Die schwarze Spinne“ nimmt den Topos des Teufelspaktes auf und schreibt, obwohl der Autor als erster großer Realist der Schweizer Literatur gilt, die Tradition der Schauerromantik fort. Wie immer im Realismus spielt jedoch die Psychologie der Figuren eine große Rolle. Deutlicher noch als in der Erzählung wird dies in Gotthelfs Romanen, unter denen Uli der Knecht und Uli der Pächter die bekanntesten geblieben sind. Der Zürcher Diogenes-Verlag hat diese nun zum Auftakt einer kommentierten Neuausgabe der Werke Gotthelfs wie auch einiger Erzählungen, darunter „Die schwarze Spinne“, in drei schön gestalteten Bänden herausgeben – als Einladung, den Autor erneut oder auch erstmals zu lesen.

Macht des Geldes

In den „Uli“-Romanen geht es am Beispiel von Bauernfamilien und ihren Angestellten um menschliche Stärken wie Schwächen. Die Verführbarkeit zum guten wie zum lasterhaften Leben wird gezeigt anhand von einigen Bediensteten. Und die Bauern werden nur selten als wohlwollende Arbeitgeber geschildert, regelmäßig aber als Repräsentanten von Geiz, Neid und Misstrauen. Positive wie negative Charaktereigenschaften findet man bei allen, und der Autor führt vor, aus welchen Gründen die einen oder eben anderen hervortreten. In allen Schichten spielt hier die Macht des Geldes eine bedeutende Rolle. Überhaupt ließe sich ein ländlicher Kapitalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl gut an diesem zweibändigen Bildungs- und Sozialroman studieren – und das zeigte dann auch, wie jener Kapitalismus durch eine protestantische Wirtschaftsethik sowohl gezähmt wie auch gelenkt und befördert wird.

Jeremias Gotthelf war Theologe und Pfarrer und hatte einen rebellischen Charakter; liberal war er gesinnt und ein Kritiker des dominierenden Patriziats. Seine Schriftstellerei, die auch der eigenen Seelenhygiene diente, verstand er als eine Form von Seelsorge; das unterstreicht sein Autorenname Gotthelf, denn der war ein Pseudonym. Der Schriftsteller hieß eigentlich Albert Bitzius. Regelmäßig fügen sich bei ihm in den Erzählfluss pastorale Ermahnungen.

Jeremias Gotthelf war ein feiner Beobachter und scharfer Analytiker der menschlichen Psyche und des gesellschaftlichen Lebens. Im dörflich-ländlichen Raum äußerte sich die soziale Misere zwar anders als zur selben Zeit in den großen Städten Europas, doch kaum weniger bedrängend; Knechte und Mägde lebten nicht besser als das städtische Industrieproletariat. Immer wieder findet man bei Gotthelf zeit- und sozialkritische Fingerzeige. Wie nebenbei steht in der „Schwarzen Spinne“, als es um einen Bauern geht, der „ein armes Bübchen“ bei sich aufgenommen hat, der Zusatz: „(...) wie es ja auch jetzt viel geschieht, dass man Kinder um Gottes willen nimmt und sie dem Teufel in die Hände spielt“ – eine Anspielung auf die so genannten Verdingkinder, die in der Schweiz bis in die 1960er-Jahre von den Behörden ihren angeblich asozialen Eltern weggenommen und in Bauernfamilien untergebracht wurden, wo sie für ihren Unterhalt hart arbeiten mussten, oft missgünstig behandelt und zuweilen sexuell missbraucht wurden.

Weisheit und Verstand

Am Beispiel Ulis zeigt Gotthelf auch, dass die Besinnung auf eigene positive Anlagen und Tüchtigkeit im Zusammenspiel mit einem günstigen Umfeld genügen kann, um ein gutes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Uli „blieb sparsam, ward (…) emsiger und wuchs zugleich an Weisheit und Verstand und an Gnade bei Gott und den Menschen“, schreibt Gotthelf. Und weiter: „Er fühlte, dass er nicht mehr nur so ein arm Knechtlein sei, der nirgends sein sollte, sondern dass er in der Welt sich auf einen Platz gestellt, wo man ihn gerne sah, wo er etwas zu bedeuten hatte.“ Hätte Uli aber nicht das Glück gehabt, einen gütigen und weitsichtigen Bauern zum Arbeitgeber zu haben, wäre er kaum zu solch einer Haltung gekommen.

Als Pächter droht er dann anfangs selbst so engstirnig wie viele andere zu werden, seine Nächsten und die Schwächeren der Gesellschaft zu vernachlässigen und sich allein um seinen Hof und das eigene Auskommen zu kümmern. Doch glücklicherweise steht ihm mit Vreneli eine Ehefrau an der Seite, die seine Defizite durch Güte und reine Menschenliebe auszugleichen versteht. Als ein heftiger Hagelniederschlag die Ernte nahezu vernichtet, ist Uli schier verzweifelt, doch alsbald wendet sich wieder alles zum Guten. Und seine fortschrittliche Wirtschaftsweise wird erneut mit reichen Ernten belohnt.

Ein klassisch-allwissender Erzähler fungiert als Chronist der Ereignisse. Manchmal erwähnt sich dieser selbst, manchmal werden Vorkommnisse am Rande anekdotisch ausgeschmückt. Auch dies trägt dazu bei, dass man Gotthelfs Erzählen als volkstümlich bezeichnen kann. Dazu passen auch die mundartlichen Elemente, die sich vor allem in direkten Aussagen der Figuren finden. Seine Eigenständigkeit gewinnt diese Literatur nicht zuletzt dadurch, dass sie auch ein getreuer Spiegel ihrer Zeit und einer bestimmten Region und insofern praktische Volkskunde ist. Trostreich ist sie für das Lesepublikum – und eine Mahnung zugleich, denn hätte Uli seine Zweifel nicht durch Glaubensstärke überwunden, hätte sich nicht alles noch so positiv entwickelt. In fast biblischem Ton heißt es am Ende von Uli der Pächter: „Der Herr war mit ihm und alles geriet ihm wohl, seine Familie und seine Saat.“

Bildkräftige Schilderungen

Die Anteilnahme seiner Leserinnen und Leser beförderte der Schriftsteller durch bildkräftige Schilderungen und farbenprächtige Szenerien. Besonders ist das in der „Schwarzen Spinne“ zu spüren. Dort ist der Erzählbogen spannender gestaltet und von größerer Prägnanz als im buchstäblich epischeren Format der Romane. In der Binnenerzählung, um die sich die Rahmenhandlung einer Kindstaufe auf dem Hof wohlhabender Bauern spannt, werden historische Zusammenhänge und Spukhaft-Fantastisches vermischt und verdichtet zum ganz präsentisch wirkenden Geschehen. Jahrhunderte zurück reicht die Erzählung des Großvaters des Täuflings; sie folgt auf eine längere Exposition, die das Tauffest detailverliebt ausmalt. Adlige Ritter haben in der Zeit der Binnenerzählung noch das Sagen und bestimmen über das Wohlergehen der bäuerlichen Gesellschaft. Das Unglück, das die Spinne bringt, ist die Pest; sie selbst ist ein Bild, ein Symbol für die „schwarzer Tod“ genannte Seuche und ganz allgemein für die Abwendung vom richtigen Weg. Eine Frau, die einen Teufelspakt eingegangen ist, um die schwere Last, die der herrschende Ritter den Dörflern auferlegt hatte, leichter zu bewältigen, verwandelt sich in ein riesiges Spinnentier; und schon zuvor sind Unheil bringende Spinnen aus der Wange der Frau gekrabbelt, wohin sie der Teufel zur Besiegelung des Paktes geküsst hatte. Der Pakt geschah im Sinne der Gemeinschaft, aber klar war doch, dass die Folgen keinesfalls zum Besten ausfallen würden; immerhin forderte der in Gestalt eines Jägers auftretende Teufel als Lohn ein ungetauftes Kind. Gotthelfs Erzählung hat eine christliche, aber ebenso universelle Moral: Man darf sich nicht um eines Guten willen mit dem Bösen einlassen!

Bezwinger der Spinne

Literarische Seelsorge: Allein ein gottesfürchtiger Mann vermag unter Aufopferung seiner selbst dem Spuk ein Ende zu bereiten. So geht es beim ersten Mal und dann auch beim zweiten, nachdem ein leichtfertiger Mensch im Übermut die große Spinne aus ihrem Gefängnis im Gebälk eines Hauses, wo sie lange eingesperrt war, herausgelassen hat. Damit nahm das Unheil erneut seinen Lauf. Dass die zwei Spinnenbezwinger Helden im Sinne der Christus-Nachfolge sind, ist klar. Beide lassen ihr Leben für die Rettung eines unschuldigen Kindes und der Dorfbewohner.

Alle Erzählschichten sind hier ausgeglichen gestaltet und aufeinander abgestimmt – so, wie es nur ein echter Meistererzähler vermag. Die Psychologie kommt ebenfalls nicht zu kurz, denn sowohl der zweite Retter wie die Frau, die den unseligen Pakt geschlossen hatte, sind Außenseiter oder werden zu solchen gemacht; auch deshalb handeln sie außergewöhnlich, während andere sich verführen lassen, ihrer Bequemlichkeit folgen oder sich dem Aberglauben hingeben.

Wir haben nichts zu fürchten, sagt der Großvater angesichts der von der Schilderung verängstigt wirkenden Zuhörer, „solange wir uns fürchten vor Gott“. Und Gott ist es auch, der am Ende der Gesamterzählung genannt ist. Abend ist es nun, nach dem festlichen Tag sind alle zur Ruhe gegangen; sie schlafen friedlich wie die, „welche Gottesfurcht und gute Gewissen im Busen tragen, welche nie die schwarze Spinne, sondern nur die freundliche Sonne aus dem Schlummer wecken wird“ – ein Erwachen, wie es ganz am Anfang der Erzählung schon einmal geschildert wurde.

Weiter heißt es: „Denn wo solcher Sinn wohnet, darf sich die Spinne nicht regen, weder bei Tag noch bei Nacht. Was ihr aber für eine Macht wird, wenn der Sinn ändert, das weiß der, der alles weiß und jedem seine Kräfte zuteilt, den Spinnen wie den Menschen.“ Über allem steht Gott, der die richtige Richtung weist. Und Gott verleiht eben auch die Kraft zum Erzählen, die in dieser Geschichte erst wirklich die menschliche Gemeinschaft festigt, als alle dem Großvater lauschen. Nicht nur vermittelt Gotthelfs Erzählung Vergangenheit und die Gegenwart ihrer Entstehungszeit; sie nimmt auch heutige Leser in sich auf, die sich in dem spannungsgeladenen Text aufgehoben fühlen und in einen intensiven Verständigungszusammenhang mit ihm treten können.

Der christliche Sinngehalt ist immer offenkundig, aber Gotthelfs Texte sind dennoch alles andere als eindeutige Erbauungsliteratur. Das Emmental wird zum literarischen Mikrokosmos. Hier wie überall haben Menschen die Aufgabe, ihrer Freiheit innezuwerden und sie vernünftig zu gebrauchen. Das Emmental im Berner Mittelland wird bei Jeremias Gotthelf zum Schauplatz einer Weltliteratur, die so ursprünglich wirkt wie die Landschaft, in der sie entstanden ist. Das ist auch ein Grund, weshalb der Schweizer Erzähler mehrfach mit keinem Geringeren als Homer verglichen wurde. Gotthelf neu zu entdecken, lohnt sich. 

Informationen
Im Rahmen der „Zürcher Ausgabe“ sind im Diogenes Verlag erschienen: „Die schwarze Spinne und andere Erzählungen“ (559 Seiten, Euro 30,–), „Uli der Knecht“ (528 Seiten, Euro 32,–) und „Uli der Pächter“ (592 Seiten,
Euro 34,–). Weitere Bände folgen.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"