Heftige Romanze

Radio Sessions erschienen

Inflationäres Staunen ist eine schwärmerische und zutiefst unernste Haltung. Sie preist einzig sich selbst, die Gegenstände entwertet sie. Aus rarem „Dass ich das noch erleben darf“ spricht hingegen so kreatürliche wie kosmische Dankbarkeit, die gerade deshalb nicht alleine bleibt. Wen nun ihre „Radio Sessions“ erstmals auf „The Monochrome Set“ (MS) stoßen, mag so empfinden und auch erleichtert sein. Immerhin ist dieser wundervolle Britpop-Feuervogel bereits 1978 zu Post-Punk- und Wave-Hochzeiten aufgestiegen, war ein wesentlicher Einfluss für die Smiths, Franz Ferdinand und viele andre, blieb allerdings bis heute unter jedem Hit-Radar. Verpassen wäre also möglich gewesen.

BBC-6-Gastgeber Marc Riley (auch eine Legende: ehedem Bassist und Gitarrist von The Fall, in den 80ern mit den Creepers unterwegs) lud die Band um den in Indien geborenen, Stimm- wie Witz-charismatischen Sänger Ganesh Seshadri aka Bid zwischen 2011 und 2022 achtmal zu Sessions ein, bei denen sie jeweils vier Songs einspielten: Sets, deren Magie fasziniert – Bands agierten freier als im Studio, aber konzentrierter als auf der Bühne und lieferten überraschende Versionen neuer und alter Songs, wie das Label zutreffend schreibt. Im ersten Set spielen MS alte, aus der Zeit von Alben wie Strange Boutique, Love Zombies und davor, darunter auch „Eine Symphonie des Grauens“ über eine heftige Romanze von Sarg zu Sarg oder das sardonisch-heiter funkelnde „Jet Set Junta“.

Und die Musik? Polka, Rock, Wave, Musical und Cabaret mischten sie, hieß es damals, oder XTC, The Doors und Ultravox reichten sich die Hände. Kein Wunder, dass sie gemocht wurden, aber durch alle Raster fielen. Die andern BBC-Sessions bestückten sie mit Songs aus je frischen Alben, die diese Linie aus skurrilen Texten und packend unerwartetem Sound halten. So schräge Geschichten wie „They call me Silence“ mit Twang-Gitarre, rollendem Bass und verzerrter Geige, „Cauchemar“ mit Cembalo-Rumble oder das in Rocksteady-Skanken schubsende „Super Plastic City“ geben sich mit den pfiffigen Signor-Rossi-Jazz-Figuren in „Lefty“ die Hand. Und Bid schwelgt, oft unentrinnbar croonend, etwa in „The Z Train“, einer Turbo-Polka mit triefender Schweineorgel, kräftig britischem Mitsing-Drang und einem Drive, der Tränen treibt. Vor Begeisterung. Und Staunen, wenn erst die Orgel ins Improvisieren stippt.

Kirmesklänge, Chansonpop sowie smart an Psychedelisches reichendes Material – The Monochrome Set liefern alles und noch einiges mehr. Die Besetzungen wechselten oft. Prägend seien der Kanadier Lester Square an der Gitarre und Bassist Andy Warren als Urgesteine erwähnt. Ansonsten bleibt viel Lust, auch auf Backkatalogräusche, hat doch das Gute ohnehin seine eigene Gegenwart. Sehnsucht, abstrus gesteigerte Alltagsbeobachtung und Gelächter sagen sich hier zu treibendem Beat heiter Gute Nacht. Und Ballade können sie auch. Staunen darf hier ruhig mal schwärmen.

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