An der Grenze

Das Sittengesetz in mir

Zum Kant-Jubiläum ein Buch mit dem Gespräch zwischen einem bekannten Schriftsteller und einem weniger bekannten, aber äußerst kompetenten Philosophieprofessor (Universität New York): eine gute Idee. Und der bekannte Schriftsteller, Daniel Kehlmann, erweist sich als kompetenter Gesprächspartner. Als Student hat er sogar die Kritik der reinen Vernunft gelesen, zur Gänze(!). Auch wenn der bekannte Schriftsteller immer ein wenig den Eindruck macht, als säße er allzu ehrfürchtig zu Füßen des Professors: Es ist ein gutes, aber schwieriges Buch.

Das erste von nicht wenigen Problemen: Ihre These, erst die Definition Kants mache den Menschen zum wahren Menschen – offenbar ist das derjenige, der den kategorischen Imperativ befolgt. Dabei komme es gar nicht darauf an, dass es einen solchen Menschen wirklich gibt, wichtig sei nur, dass dieses Bild als das gültige Vorbild für die Menschheit gelten solle. Es sei ein Problem, dass die heutigen Humanisten den Menschen nur biologisch bestimmten. Der Leser mag denken, täten sie es nicht, stünden sie etwa vor der Frage, wieso dann geistig behinderte Menschen als Menschen angesehen werden müssen – aber diese abwärts schlitternde Bahn betreten die Diskutanten nicht. Dabei greifen sie tief in die philosophiegeschichtliche Kiste: die Auseinandersetzung zwischen Spinozisten und Leibnizianern, die Bezüge zu den Bösewichtern in dieser Kiste, Nietzsche und Heidegger … und fast nebenbei: Kant sei ein Platoniker, und darauf beruhe seine einstens berühmte Auseinandersetzung mit David Hume. Dies zeige sich, wenn man jenes berühmte Kantwort vom gestirnten Himmel über mir und dem Sittengesetz in mir richtig auslege: Der gestirnte Himmel zeige mir nämlich, wie klein ich – wir, alle Menschen – im Angesicht des Kosmos bin; das Sittengesetz in mir aber sei viel größer als jene Unermesslichkeit, es birgt das Geheimnis des Vermögens zur Freiheit, und im Verhältnis zu ihr „ist jede Menge oder Macht der Natur unendlich klein“.

Nun lässt sich dieses Sittengesetz zwar gegebenenfalls konstatieren, aber kaum ohne einen Schöpfer denken. Allerdings hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Gott der Deisten (also den Restgott der Aufklärer) „hingerichtet“, wie Heinrich Heine pointierte, er hatte auch die Möglichkeit des Gottesbeweises widerlegt, da über Gott eben kein „synthetisches Urteil a priori“ (also ohne Erfahrung) möglich sei. Allerdings hält Omri Boehm die Frage nach Gott auch heute noch für die zentrale Frage der Philosophie, auch wenn sie möglicherweise nur mit einem Als-ob beantwortet werden kann.

Die Autoren betonen, sie hätten sich vorgenommen, Kant nicht um jeden Preis zu verteidigen. Manchmal geraten sie in die Nähe dieser Grenze, etwa, als sie eine besonders umstrittene These Kants diskutieren: Kant hatte die Frage, ob man, wenn ein potenzieller Mörder an der Tür nach einem bei mir versteckten Freund fragt, das Gebot des kategorischen Imperativs, nicht zu lügen, nicht brechen dürfe, mit „nein“ beantwortet. Omri Boehm erklärt ziemlich kompliziert, warum es hier nur um das Prinzip gehe und es auch Kant gegangen sei, im Übrigen habe Hannah Arendt schon richtig bemerkt, bei Kant habe kein Mensch das Recht, zu gehorchen.

Im Anhang des Buches gibt es neben einem Ausschnitt aus Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt die Ausführungen Heinrich Heines über Kant zu lesen, und mancher wird sie eingängiger als viele Erläuterungen Boehms finden. Das führt unweigerlich zu der Frage, für wen ein solches Buch eigentlich gedacht ist – und man kommt zu dem Schluss, wohl für Philosophen oder zumindest ehrgeizige Philosophiestudenten. Mancher Kehlmann-Fan, der das Buch im Vertrauen auf dessen Namen kauft, wird das Buch wohl ungelesen aus dem Urlaub zurückbringen. 

 

Siehe auch: https://zeitzeichen.net/node/11051

 

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