Eindrücklich

Journal vom Krieg

Endlich lesen wir ukrainische Autoren. Andrej Kurkow (geboren 1961 in Leningrad) ist einer der bekanntesten. Seinen zuletzt begonnenen Roman hat er am 24. Februar 2022 auf Eis gelegt. Die Zeiten sind nicht so. Stattdessen schrieb er Tagebuch – wie schon zum Euromaidan 2013/14, auf den hin Russland die Krim annektierte und den Krieg in der Ostukraine begann. Den Humor habe er verloren, Wut sei an dessen Stelle getreten.

Zu einem sarkastischen Samurai-Spruch im Nachwort reicht es aber: „Wenn du sehr lange am Flussufer sitzt, wird früher oder später der Leichnam deines Gegners flussabwärts vorbeischwimmen.“ Er jedoch sitze bereits an der Fortsetzung über den Kampf um Freiheit. Der letzte Eintrag dieses Bandes stammt vom 11. Juli und erwähnt ein Boot mit Priestern und Ikonen vor der Küste von Mariupol, wo zuvor im Drama-Theater Hunderte Schutzsuchende starben. Begleitet von einem Kriegsschiff sollte die „maritime Prozession“ wohl zeigen, dass Gott auf Seiten der Russen ist, mutmaßt Kurkow.

Weiter erzählt er hier vom Autofahren unter Kriegsbedingungen, mobilen russischen Krematorien und dem Sommer: „Die Strände von Kyjiw sind voller Menschen. Die Sappeure haben alles gründlich abgesucht. Es gibt dort keine Minen. Die Stadtreinigung hat außerdem bekanntgegeben, dass sämtliche Strände mit Zeckenschutzmittel behandelt worden sind. Jetzt muss man sich nur noch vor russischen Raketen fürchten.“

In 47 Journal-Einträgen, die zum Jahreswechsel mit Corona-Sorgen beginnen („Auf Nimmerwiedersehen Delta! Willkommen Omikron!“) und erst nach 100 Seiten den Krieg erreichen („Letzter Borschtsch in Kyjiw“), schildert Kurkow launig, genau beobachtet und packend erzählt Alltag im Krieg. Es sind erklärt subjektive Texte, statt Tagebuch allerdings eher Kurzessays, die Erlebtes, Begegnungen und Gedanken feuilletonhaft gruppieren. Leute trifft der sonst in Kiew Beheimatete gerade viele: Er ist wie Millionen seiner Landsleute geflohen. Wirklich sicher sind er und seine Frau im Westen der Ukraine allerdings nicht.

Was er erzählt, ist verstörend unterhaltsam und informativ. Er verbindet das Berichtete mit Exkursen in die nationale und mentale Geschichte seines Landes. Derart lässt er als Chronist der Invasion an seinem Blick von innen teilhaben, der oft über das Erwartete hinaus berührt – etwa, wenn er als ethnischer und von Hass erfüllter Russe von der Not schreibt, seine Sprache wie auch seine sowjetischen Lieblingsautoren nun nicht aufzugeben. Er nennt Ossip Mandelstam, Andrei Platonow, Boris Pilnjak, Nikolai Gumiljow: „Die meisten von ihnen wurden von den Behörden erschossen.“ Heute verwiese man sie wohl des Landes und brandmarkte sie als Volksfeinde.

Auch nahezu alle ukrainischen Schriftsteller wurden in den 1920er- und 1930er-Jahren erschossen. Jene 300 sind als die „Rosstriljane widrodschennja“ („hingerichtete Wiedergeburt“) bekannt. Kurkow erwähnt sie mehrfach und gemahnt an sie, wenn er von der Melitopoler Kollegin erzählt, die er nicht mehr erreicht. Dass der FSB nach ihr suchte, war das Letzte, was er von ihr wusste. Die Agenten zogen mit einer Liste von Haus zu Haus, auf der auch sie stand. Siegt Russland, drohe eine weitere Generation hingerichteter Autoren, Politiker, Philosophen und Philologen, all jene, „denen ein Leben ohne freie Ukraine sinnlos erscheint. Ich kenne viele solche Autoren. Sie sind meine Freunde, und ich selbst zähle mich auch zu ihnen.“ Das ist mal Pathos, das sich kaum geschmäcklerisch abtun lässt – und zugleich Appell.

Auch darum lohnt es, dieses eindrückliche Kriegsjournal zu lesen. Zudem rührt es an das faschistoide Unbewusste der friedensethischen Äußerungen manch Pensionsberechtigter, die angesichts des Krieges auf das Bellen der NATO vor Russlands Tür verweisen.

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