Unverstand

Werk in Sonderausgabe

Bertrand Russell war einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er ist kein rein akademischer „Katheder-Philosoph“ gewesen. Vielmehr zählt er zu den unangepassten, geradezu subversiven Intellektuellen wie Thomas Paine, Ludwig Feuerbach – die seine Vorbilder waren –, Leo Tolstoj oder heutzutage Noam Chomsky, die über die Zeiten hinweg allgemein von sich reden machen, gerade weil sie sich häufig mit dem politischen und religiösen Establishment angelegt haben.

Nie haben sie sich einschüchtern oder überreden lassen, von ihren oft unbequemen Ansichten abzurücken oder einfach zu schweigen. Vom gesunden Menschenverstand öffentlich Gebrauch zu machen, die Freiheit des Denkens in Büchern, Vorträgen und Interviews allgemein verständlich zu demonstrieren und radikale politische Konsequenzen einzufordern, ist für sie alle ein Gebot intellektueller Redlichkeit gewesen. Russell wurde 1872 geboren, noch zu Lebzeiten Feuerbachs, der vier Monate später starb. 2022 wurde mithin nicht nur des Letzteren 150. Todestag begangen, sondern auch Russells 150. Geburtstag.

Anlässlich dieses Jubiläums wollte der Europa-Verlag sein opus magnum in einer Sonderausgabe publizieren. Exakt ein Jahr später ist das endlich gelungen: die legendäre Philosophie des Abendlandes auf gut 850 Seiten. Das 1945 erstmals erschienene Werk ist ein echter longseller, ein typischer Russell: lebendig, engagiert, höchst parteiisch, verständlich, humorvoll, mit Mut zu Lücken und Einseitigkeiten. Kein Buch primär für professionelle Philosophen, wohl aber für solche, die es womöglich werden möchten. Vor allem aber für solche, die Lust haben am freien Denken ohne Scheuklappen. Dass Russell 1950 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, hat er seinem Buch Ehe und Moral wie auch diesem gut lesbaren Monumentalwerk zu verdanken. Das erste Buch behandelt die antike Philosophie von den Vorsokratikern bis hin zu Plotin. Das zweite Buch ist der katholischen Philosophie von den Kirchenvätern bis zum letzten großen Scholastiker William von Occam gewidmet. Nach 500 Seiten gelangt Russell im dritten Buch zur Neuzeit. Er schlägt einen Bogen von Machiavelli bis hin zur Schule der mathematisch-logischen Philosophie, der er selbst angehört, mit Georg Cantor und Gottlob Frege. Russell zufolge ist die Philosophie ein „Mittelding zwischen Theologie und Wissenschaft“. Seine Antipathie gilt bekanntermaßen Ersterer, ist er doch berühmt bis berüchtigt geworden durch seinen Vortrag „Warum ich kein Christ bin“ (1927). Seine Sympathie gilt vielmehr der „wissenschaftlichen Wahrheitsliebe“, die sich das Nicht-Wissen vieler Dinge offen eingesteht: „Wie man ohne Gewissheit und doch auch ohne durch Unschlüssigkeit gelähmt zu werden, leben kann, das zu lehren ist vielleicht das Wichtigste, was die Philosophie heutzutage noch für diejenigen tun kann, die sich mit ihr beschäftigen.“ So agnostisch Russell als Denker war, so humanistisch und pazifistisch engagierte er sich als politisch wachsamer Bürger.

1955 veröffentlichte er zusammen mit Albert Einstein ein nach ihnen beiden benanntes Manifest, in dem sie die Abschaffung der Atomwaffen forderten und eine grundsätzlich friedliche Lösung von Konflikten zwischen Völkern. Russells gesunder Menschenverstand wird in unseren düsteren politischen Zeiten, in denen allenthalben der Unverstand regiert, schmerzlichst vermisst. Vielleicht kommen einige durch die Lektüre dieses wunderbaren Schmökers wieder zur Vernunft.

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