Anregend

Bachs Ratswahlkantaten

Vergleichbar in der Vielfalt und großen Tiefe, mit der Rembrandt in seinen Zeichnungen und Gemälden biblische Texte hat lebendig werden lassen, ist im Bereich musikalischer Interpretation und Inszenierung eigentlich nur Johann Sebastian Bachs Werk der Kirchenkantaten, Passionen und Oratorien. Sie wurden in hoher Kadenz für sonntägliche Gottesdienste geschaffen und zum Teil mehrfach aufgeführt. Dass diese einzigartigen Kompositionen im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurden und heute konzertant und in gottesdienstlich-liturgischem Rahmen aufgeführt werden, erstaunt nicht. Groß angelegte Kantatenprojekte in Deutschland, in der Schweiz und in den Niederlanden zeugen von einer anhaltenden Bach-Konjunktur.

Wie aber steht es um die zeitgenössische Liturgie- und Gottesdiensttauglichkeit von Bachs Ratswahlkantaten, einer damals für spezifische Anlässe geschaffenen und heute so nicht mehr gegebenen Sonderform? Das ist die Fragestellung einer Studie von Janis Berzins, eines Theologen und ausübenden Musikers, die als Dissertation im Bereich der Praktischen Theologie entstanden ist . Großflächig angelegt ist sein Projekt, Musik-, Theologie- und Politikgeschichte, aber auch Überlegungen zu einer adaptierenden Liturgik und Homiletik umfassend. Entsprechend umfänglich ist das Buch mit 549 Seiten geworden.

Die Experimentalanordnung ist komplex: Denn einerseits sind von den Kantaten zur jährlichen Ratswahl, die zu den Pflichten und Aufgaben des städtisch angestellten Musikers gehörten, zwei für Bachs kurze Mühlhausener Zeit und nur acht von den insgesamt achtundzwanzig Ratswahl-Kantaten seiner Leipziger Jahre erhalten und keine einzige der dazugehörigen Predigten. Zudem ist jenes damalige, grundlegende Verständnis eines gottgeordneten, christlichen Gemeinwesens (Leipzig als Jerusalem) in heutigen Zeiten obsolet.

Trotzdem, man lernt viel im Teil A über die Entwicklung der Bachforschung, über Kirchenmusik zu politischen Anlässen der Zeit vor Bach und zu Bachs Zeiten, über die ursprünglich genossenschaftlich-partizipative, aber damals durchaus undemokratische, auf Selbstergänzung städtischer Eliten angelegte Form von Ratswahlen samt ihrer gottesdienstlichen Legitimierung.

Es werden im Teil B detailliert die beiden Mühlhausener, die fünf vollständig und die drei nur teilweise erhaltenen Leipziger Ratswahlkantaten analysiert und theologische Gemeinsamkeiten darin gefunden, dass im Vergleich zu den Kirchenkantaten die Soteriologie deutlich zurücktritt.

Der abschließende Teil C versucht den Transfer in die Gegenwart dadurch zu leisten, dass zuerst die Differenz und der Zeitenabstand von der damaligen, lutherischen Obrigkeitstheologie hin zu einem modernen Verständnis des säkularen, religionsneutralen Staates auch in der evangelischen Ethik markiert wird, danach eine Art casus-spezifische Hermeneutik, Liturgik und Homiletik entwickelt wird, die an der Beschreibung von drei Gottesdiensten und der Analyse von vier heutigen Predigten zu Ratswahlkantaten überprüft wird. Das ist im Einzelnen sehr anregend und zeigt, dass auch in Texten, die auf dem Hintergrund andersartiger politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse verfasst wurden, noch Potenzial für heutige gottesdienstliche Feiern steckt. Verständlich in der Emotion, wenn man an Bachs Schwierigkeiten mit seinen Leipziger Magistraten denkt, aber vielleicht etwas kontraproduktiv ist das von Berzins als Coda angehängte Gedicht von Reiner Kunze: „Zu füßen gottes, wenn / gott füße hat, / zu füßen gottes sitzt / Bach, / nicht / der Magistrat von Leipzig.“ Denn hoffentlich saßen damalige Magistraten und sitzen heutige in solchen Feiern mit Bach zusammen „ganz Ohr“ zu Füßen Gottes …

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